Quantitative Spielereien sind nicht mein Ding

Sex zu haben ist für Spanier wie gemeinsam einen Kaffee trinken zu gehen, sagt meine Mitbewohnerin. Dadurch bestätigt sie mir die Aussage eines Freundes aus Madrid von vor einigen Monaten: Ob ich mit dir einen Kaffee trinken gehe, einen Ausflug mache, Sex habe,…für mich macht das alles keinen Unterschied.
Eigentlich ganz praktisch, diese Sichtweise – zumal Sex definitiv mehr Spaß macht als Kaffee trinken. Und man könnte ohne Gewissensbisse wöchentlich mit ein oder zwei verschiedenen Partnern ein Schäferstündchen genießen. Langweilig wird es da sicher nie!

Für mich ist diese Aussage ungefähr genau so unvorstellbar wie die Annahme, die Welt wäre flach wie eine Scheibe. Meiner Meinung nach ist Sex etwas sehr intimes. Nicht jeden Mann, mit dem ich einen Kaffee trinken gehe, möchte ich mit meinen Händen und Lippen überall berühren, mich gehen lassen, Ekstase erleben. Für mich ist das etwas sehr Persönliches, das viel Vertrauen erfordert. Mittlerweile komme ich mir mit dieser Ansicht wie ein Alien vor.
Warum das so ist?
In diesem Text findet ihr die Antwort. Ich stelle euch nämlich in den folgenden Zeilen die Erfahrungen meiner Selbststudie mit der Dating-Applikation Tinder zur Verfügung.

Bevor ich mich dort anmeldete, hatte ich bereits eine Reportage über Tinder gesehen: eine hübsche, sympathische intelligente Frau lernt gutaussehende, sympatische, intelligente Männer kennen, immer mit dem gleichen Fazit – sie will eine Beziehung, die Männer nicht. Naja, das kann passieren. Aber man kann die App ja auch einfach dazu benutzen, seinen Bekanntenkreis zu erweitern. Eine Freundin von mir tat dies, um nach einem Umzug in ein anderes Land neue Leute, äh Männer, kennen zu lernen. und sie ist, was Sex angeht, definitiv genau so gestrickt wie ich. Und da dachte ich mir, das probier ich auch mal aus.

Nun ist Tinder sehr oberflächlich. Du siehst ein paar Fotos der Person und, sofern sie einen monatlichen Beitrag zahlt, auch noch einen mehr oder weniger persönlichen Text und ein Lied. Funktionieren tut die Applikation einfach: Wenn dir der Typ gefällt, klickst du auf das Herz oder schiebst sein Foto nach rechts. Wenn nicht: Kreuz oder Foto nach links schieben. Aufgepasst: schiebst du nach oben, gibst du einen sogenannten „Superlike“. Das wird der betreffenden Person dann angezeigt und aus lauter Freude darüber gibt sie dir dann (hoffentlich) auch einen like.
Wie auch immer, nachdem du gelikt hast, siehst du direkt, ob du dem Mann auch gefällst, dann habt ihr nämlich einen Match, der euch dazu befähigt, private Nachrichten zu verschicken. Eigentlich so ähnlich wie Whatsapp.

Nun kann ich euch sagen, dass so gut wie alle Männer, die ich gelikt habe, das Gleiche auch bei mir taten. Ich hatte also unzählige Matches. Mittlerweile weiß ich durch Erfahrungsaustausch mit männlichen Tinderianern, warum das so ist: Mangelware Frau! Männer, die nicht wie Models aussehen, haben es extrem schwer, überhaupt in Kontakt mit irgendeinem Weiblichen Wesen zu kommen. Also liken sie einfach alles, was ihnen in den Weg kommt. Sie haben ja ein wichtiges Ziel und das heißt Sex. Nicht, dass ich jetzt denke, ich wäre nicht hübsch. Aber so sind nun mal die Tatsachen. Also nicht zu sehr geschmeichelt fühlen, liebe Frauen.

Natürlich muss frau auch anschließend nicht das Gespräch beginnen. Meine 30 Schriftwechsel reichten mir vollkommen und überforderten mich auch zeitweise, wobei ich nicht einmal annähernd die ganze Liste der Männer auf Mallorca durchgegangen bin. Selbststudie hin oder her, irgendwo ist dann doch Schluss!
Hier ein kleiner Tipp am Rande an die Männer: den Schriftwechsel mit „Hola“ oder „Que tal“ zu beginnen ist eine absolut dämliche Idee, wenn man bedenkt, mit wie vielen kontaktwilligen Männern die Damenwelt zurechtkommen muss. Ich hatte an meinem ersten Tag ca. 15 Holas da stehen und war tatsächlich einen Moment lang versucht, dieser überquellenden Kreativität den Rücken zu kehren. Im Endeffekt war der Wille dann aber doch stärker, die Tinder – Studie zu beginnen und ich habe mich brav ans Beantworten gemacht.
Einige kreative Köpfe gab es dann aber doch unter den Tinderianern. Einmal wurde ich gefragt, welches mein liebstes Element sei – Feuer, Erde, Luft oder Wasser. Einer meiner positivsten und interessantesten Kontakte. Ein anderes Mal wurde ich mit drei für den Mann elementar wichtigen Fragen konfrontiert – er hatte es wohl eilig. Kompromisslos, konsequent.

– kurze Unterbrechung  – ich habe ein Tinder – Date. Mein letztes.

So, wieder zurück. Es war sehr nett, wie immer. Sympatischer, gutaussehender, intelligenter und hey, diesmal auch ein interessanter Mann, der was sucht? Na, Sex! Das sagt er natürlich nicht, denn dann würde er ihn ja nicht bekommen. Aber ich bin mittlerweile so demoralisiert, dass ich selbst auf so einen exzellenten Selbstverkäufer wie ihn nicht mehr hereinfalle.

Nostalgisch erinnere mich an mein erstes Tinder – Date vor ca. 4 Wochen. Eigentlich wollte ich ihn gar nicht treffen, wusste gar nicht mehr, warum ich ihn eigentlich gelikt hatte. Spielt Golf, den Sport der Reichen. Auf den Fotos kommt er sehr cool rüber. Der ist bestimmt ganz anders als ich, dachte ich.
Hier fällt auf, welchen moralischen Grenzbereich man mit der Welt von Tinder betritt: Menschen nach Fotos und ausgeübten Hobbys zu klassifizieren. Doch dazu später mehr.
Zufällig besuchte ich am Wochenende meinen Cousin in einer 70 km von Palma entfernten Stadt. Und wer wohnte da? Na, er natürlich!
Wir sehen uns, fangen an zu quatschen und…mögen uns! Ja, er ist anders. Aber toll! Was für ein Glück, dass ich ihn nicht aussortiert habe. Aus einem ersten Treffen wird ein zweites und auch ein drittes. Aber gleichzeitig ist es schwierig, mit jemandem umzugehen, der so anders ist, als man selbst. 90 Prozent des Kontaktes erfolgt durch den für Missverständnisse anfälligen Schriftverkehr und dann auch noch zweisprachig. Hilfe! Man lernt sich nicht durch Freunde kennen, wie normalerweise. Trifft sich nicht regelmäßig in ungezwungenem Beisammensein und bekommt dadurch immer wieder eine Chance, sich ein wenig besser kennen zu lernen. Nein, hier heißt es hop oder top. Neues Date oder wir sehen uns eben nie wieder. Schade, eigentlich.

Ich bekam auch einige Superlikes. Es ist tatsächlich so, dass ich mich durch die Freude darüber milde gestimmt fühlte und den Männern meistens auch einen like gab. Keine so gute Idee. Einer von ihnen, Anwalt übrigens, fing vor den Wahlen in den USA an, mir schlüpfrige Bilder und Videos von und über Hillary Clinton zu schicken. Und das, ohne auch nur einmal mit mir gesprochen zu haben. Er bemüht sich noch immer mit regelmäßigen Messages, seinen Fehler wieder gut zu machen…
Mit einem Deutschen klappte ein Treffen nicht mehr, da er nur Urlaub auf Mallorca machte. Er kündigte an, mich in einigen Wochen noch einmal besuchen zu kommen, damit wir uns kennen lernen können. Als ich ihm vorsichtig mitteilte, dass ich auf Tinder mit ein paar mehr Männern in Kontakt sei und er doch bitte nicht nur wegen mir nach Mallorca fliegen sollte lautete seine Antwort wortwörtlich: Quantitative Spielereien sind nicht mein Ding! Nun ja, mein Ding auch nicht. Allerdings warte ich nicht zwei Monate auf ein Treffen mit irgendeinem Mann den ich weder gesehen noch gesprochen habe, wenn ich die Chance habe, andere interessante Männer kennen zu lernen, die nicht so weit entfernt wohnen. Das sollte doch wohl verständlich sein.
Ein Michael Jackson Imitator (nichts für eine Beziehung aber doch bestimmt ein interessanter Mensch) stellte sich als so einfältig heraus, dass ich den Kontakt mit ihm abbrach.

Nun zum Fazit:
Wenn du zu den Menschen gehörst, die kein Problem damit haben, sich zu „verkaufen“, wie wir es fast alle mehr oder weniger alle täglich auf Facebook, Instagram oder Twitter tun, wenn für dich der Vergleich mit Kaffee trinken und Sex nicht an den Haaren herbeigezogen klingt und du gern neue Leute kennen lernst – nur zu! Tinder ist genau das Richtige für dich.

Wenn du allerdings zu den Menschen gehörst, die sich eher unwohl in den sozialen Netzwerken fühlen, sich nicht gern mit schicken Selfies auf Facebook profilieren und täglich der Außenwelt ihr spannendes und vollkommenes Leben zur Verfügung stellen, lass lieber die Finger von Tinder. Du wirst Menschen kennenlernen, die ihre Partner betrügen. Menschen, die lügen würden, um dich nur ein Mal ins Bett zu kriegen.

Mich hat die Nutzung von Tinder tatsächlich in eine leicht depressive Phase getrieben. Natürlich ist es spannend, neue und interessante Männer kennen zu lernen. Ich habe schräge und unglaublich lustige Geschichten erlebt. Außerdem dient Tinder nicht nur zum Daten. Ich hatte durch Tinder eine Wohnungsbesichtigung, habe zwei Gitarristen kennen gelernt, mit denen ich evtl. in Zukunft zusammenarbeiten werde (wobei ich einem von ihnen sogar mal ohne sein Wissen einen Auftritt zugeschustert hatte, auf diese Weise konnte ich es ihm nun mitteilen). Ich habe einen Arzt kennen gelernt, der mir mit der Übersetzung eines Medikamentes ins Spanische half und beinahe hätte ich auch einen B-Promi kennen gelernt. Schriftsteller. Sehr lustige Geschichte, die jetzt zu weit führt, da der Artikel sowieso schon sehr lang ist. Ich hoffe, einige von euch habe es bis hierhin geschafft. Zu einem Gespräch mit ihm kam es jedenfalls schlussendlich nicht und darauf bin ich wirklich stolz. Prominente Kontakte zu haben kann ja nicht schaden. Aber der Herr hat leider etwas fragwürdige Ansichten und letztendlich siegte die Moral.

Ich habe mir während meiner Tinder – Zeit viele Fragen gestellt:
– Darf ich Kontakte zu meinem Vorteil nutzen, und sei es nur, sich einen Abend das Essen ausgeben zu lassen?
– Wenn mir ein Mann gefällt, warte ich dann und treffe mich mit ihm so lange bis ich weiß, ob er es ernst meinen könnte oder treffe ich mich weiter mit anderen Männern?
Vielleicht könnte ja der nächste noch besser zu mir passen?
– Wie sehr spielt das Äußere eine Rolle bzw. wie klein darf ein Mann sein?
– Bin ich jetzt selbst so ein Arschloch wie die vielen Männer hier, weil ich mir diese Fragen stelle?

Mittlerweile ist mein Tinder – Konto gelöscht und ich bin einfach nur glücklich, dass ich diesen Stress los bin. Von Zeit zu Zeit schalte ich nun mein WLAN ab und genieße einfach nur die meditative Stille, die in meiner Kindheit und Jugend noch zur Normalität gehörte.
Dennoch bin ich froh, dieses Experiment gewagt zu haben. Zum Einen habe viel über mich selbst gelernt – zum Anderen, weil ich auf diesem Wege meine Erfahrungen mit euch teilen kann.

2 Kommentare Gib deinen ab

  1. finbarsgift sagt:

    …ach ja, Sex, wie langweilig…

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  2. Ach ja, Sex, genau dafür nutze ich (unter anderem) Tinder 😉

    Aber meine Erfüllung werde ich da wohl nicht finden. Dafür ist es vermutlich wirklich ungeeignet.

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