Die Weberin

Lesend sitze ich in einer der kleinen Erker der Kathedralenmauer. Als ich aufblicke, sehe ich eine ältere Frau vor mir stehen. Ihr Kurzhaarschnitt lässt es gerade noch zu, dass der stürmische Wind, der vom Meer heraufweht und den die Mauer nicht komplett abzuhalten vermag, ihr die grauen Haare im Gesicht verweht. Von kleiner Statur, doch nicht für spanische Verhältnisse, denn selbst ich überrage die meisten hier lebenden Frauen, steht sie da. Zierlicher Körperbau, aber drahtig. Sie blickt mich mit freundlich-entschlossenem Gesichtsausdruck an. Als sie mich anspricht, nehme ich sofort ihren Schweizer Dialekt wahr. Schon gestern hatten mich in einem Café Schweizer angesprochen, ob sie sich nicht zu mir setzten dürften.
Sie fragt mich, was ich lesen würde. Ah, Don Quijote, den hätte sie vor langer Zeit auch gelesen. Sie würde regelmäßig den Winter in Spanien verbringen, seit einigen Jahren schon in Palma. Ob wir nicht einen Kaffee trinken wollen.

Das Café „Las Columnas“ zeichnet sich durch einen einzigen, langen Tisch aus, an dem all seine Gäste Platz nehmen können. Wie von ihr angekündigt ist der Kaffee hervorragend.
Die Schweizerin erzählt mir mit ruhiger Stimme und unaufdringlicher Art Teile ihrer Lebensgeschichte. Sie sei Weberin und besitze im italienischen Teil der Schweiz ein Atelier. Da ihr Mann damals bei Swissair arbeitete, habe sie zwischendurch viele Jahre im Ausland gewohnt. London, Wien und ein kleiner Ort zwischen Valencia und Alicante. Und ja, valencianisch unterscheide sich wirklich von catalan. Sie hätte dort in einem Chor auf valencianisch gesungen.

Spanische Sprachen und Dialekte sind eine Sache für sich. Auch die Mallorquiner legen viel Wert darauf, dass ihr mallorquin als eigene Sprache angesehen wird.
In der Schule werden alle drei „Sprachen“ unterrichtet: castellano (das offizielle Spanisch), catalan und mallorquin. Einwanderer bzw. deren schulpflichtige Kinder haben es hier nicht leicht.
Auf dem Karnevalsumzug am Sonntag zog eine als Ritter verkleidete Truppe mit, deren Parolen auf ihren Schildern die Wichtigkeit der sprachlichen Abgrenzung von den Katalanen deutlich machten.
Nun, zumindest ist gesichert, dass Jaume el Conqueridor, König von Aragon und Graf von Barcelona, im 13. Jahrhundert sowohl Mallorca als auch València eroberte. „Mallorquinisch ist die gesprochene katalanische Varietät Mallorcas, ebenso wie das Valencianische die gesprochene katalanische Varietät des Landes València ist.“ So heißt es in Wikipedia.

Der weitere Verlauf des Gesprächs ergibt sich sich wie von selbst, da unsere gemeinsamen Kenntnis- und Interessenbereiche eine hohe Schnittmenge aufweisen. Musik, Literatur und die spanische Kultur nehmen einem großen Raum ein.

Ah, die Premiere der deutschen Erstaufführung der Oper „Jerusalem“ von Verdi haben Sie grad gesehen? Diese Musik gefällt mir auch gut.
Man muss bedenken, dass ich Musik studiert habe. Sie nicht. Es war die ERSTAUFFÜHRUNG dieser unbekannten Oper in Deutschland! Das geballte Wissen der Weberin beeindruckt mich. Weitaus mehr imponiert mir dabei allerdings das völlige Fehlen von Überheblichkeit, während sie ihre vielfältigen und breit gefächerten Kenntnisse wie beiläufig zum Ausdruck bringt.
Ich erwähne Max Frisch, einen Autor, den ich sehr mag. Sein Tagebuch hatte ich mir aus dem Haus meiner Eltern mitgenommen, doch zum Lesen bin ich noch nicht gekommen.
Max Frisch! Den habe sie gut gekannt. Er wohnte in ihrem Dorf, seine Frau kaufte häufig bei ihr ein. Ja, der Mann habe gewusst wo es sich leben lässt und wo er einen ruhigen Ort zum Schreiben habe. Das Gewitter, das er in seinem Werk „Der Mensch erscheint im Holozän“ beschrieben hätte, habe sie hautnah miterlebt. Es dauerte drei Tage und Nächte. Weltuntergang! Sein Tagebuch sei allerdings nicht so empfehlenswert. Also ein Buch von meiner Liste gestrichen und ersetzt durch ein anderes.

Vielleicht ist es das Weben. Diese meditative Arbeit, die einen Menschen ganz in sich ruhen lässt. Für ca. 40 Zentimeter brauche sie ungefähr acht Stunden, meint sie.
Wer diesen Beruf schon ein Leben lang ausübt, kann vermutlich irgendwann nicht anders, als ganz bei sich ankommen. Die Weberin strahlt eine Bescheidenheit aus, von der sich die meisten Menschen eine Scheibe abschneiden könnten.
Sie vermisse ihren Beruf bereits, möchte zurück in die Schweiz, zurück an ihren Webstuhl. Drei Monate Pause seien einfach zu viel.

Nie hätte ich gedacht, dass ich mich für eine Handarbeitskunst so interessieren könnte. Ich erzählte ihr von meinem Jakobsweg, den ich in San Sebastian, im Baskenland begann. Sie überlege auch, ein Stück des Weges zu laufen. Gerade San Sebastian sei für sie sehr interessant, dort gebe es eine bekannte Weberei. Die baskischen Stoffe würden sieben Streifen aufweisen, jeder stehe für eine Region des Baskenlandes. Wie eine Geheimsprache der Weber. Wie viele solcher Codes es wohl noch geben mag? Ich muss an den Actionfilm „Wanted“ mit Angelina Jolie denken. Ein Geheimbund wertet hier die Codes von Webstoffen aus, was fatale Folgen hat. Denn sie offenbaren die Namen der zu tötenden Personen.
Auf Mallorca kauft die Weberin jedes Jahr die inseltypischen, mit rautenförmigem Muster versehene Stoffe ein. Einfach nur Muster. Kein Code.

Bei einem späteren Rundgang durch die Stadt zeigt sie mir ihre ehemalige Residenz, die sie jahrelang gemietet hatte. Eines der schönsten Häuser Palmas mit Türmchen und sagenhaftem Ausblick. Sie zeigt mir Häuser mit außergewöhnlich schönen Erkern und auch ihre derzeitige Klosterresidenz. „Hier müssen Sie hinziehen! Eine Musikstudentin wohnt hier auch, und es gibt einen Raum mit Klavier zum Üben.“
Nun hat sich alles anders ergeben. Meine Airbnb Unterkunft bei den Kolumbianern ist bereits zur Miete auf unbestimmte Zeit umgewandelt worden. Ein Glücksfall für mich, da ich mich nun nicht mehr ständig um neue Unterkünfte kümmern muss und nur den günstigen Mietpreis zahle. Aber gereizt hätte mich die Klosterunterkuft doch sehr. Zumindest für eine Zeit hätte ich es mir vielleicht geleistet.

Schon zweimal waren wir bisher einen Kaffee trinken. Ich freue mich auf weitere Begegnungen mit der Weberin. Einer Frau, die nie von selbst mit ihren spannenden Geschichten herausrückt. Vielleicht erwähnt sie beim nächsten Mal beiläufig ihre lange und intensive Freundschaft mit Luciano Pavarotti. Bei dieser Frau kann man nie wissen.

 

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  1. spannend, diese unverhofften Begegnungen!

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