(Gefahren)-Potential

Ich bin verliebt. Jedes Mal aufs Neue. Verliebt in dein Auftreten, deine Stimme. Wie schaffst du es, immer wieder alles zu geben? Ich lausche deiner kräftigen und doch gefühlvollen Stimme die tief aus deinem Innern dringt und deren Wohlklang mich erschauern lässt. Mit einer übermächtigen Präsenz stehst du auf der Bühne, mit jeder Faser deines Körpers deine Rolle einnehmend, treibst dich zur Perfektion. Immer wieder gibst du alles von dir! Immer 100%! Ein wunderbares Geschenk für jeden, der dich sieht, der dich hört.

Und trotzdem. Ich frage nach dem WARUM. Tust du es aus Liebe zu dir, zu den Menschen? Ein selbstloses Geben deines großen Talentes? Oder gibt es einen Preis, den wir bezahlen müssen?

Beides ist möglich. Doch vielleicht verkaufst du dich auch, verlangst eine Gebühr für deine überirdische Leistung. Einen Preis, dessen Währung AUFMERKSAMKEIT lautet.

Ja, vielleicht. Und wenn…was ist es, was dich so aufreibt? Dich süchtig macht nach dieser Währung?

Viele Menschen leiden an dieser Sucht, dieser Krankheit. Auch Künstler. Viele Wunder und Glanzleistungen wurden aufgrund von Mangel geschaffen. Einem Mangel an Selbstvertrauen. Und wir stehen staunend davor, vor diesem Berg aus Minderwertigkeitskomplexen. Und er ist wunderschön!

Kunst ist ein Weg zur SELBSTERKENNTNIS, zur SELBSTVERWIRKLICHUNG. Was für ein Glück, wenn ein Mensch den Weg der Kunst wählt, um seinen gefühlten, inneren Mangel auszugleichen. Wenn ein Mensch, der nach Aufmerksamkeit giert, wahrgenommen, anerkannt werden will, uns mit seinem Werk bereichert. Schöpfen statt zerstören.

Denn wir wissen, es gibt genügend andere Beispiele. Einer von ihnen wäre uns beinahe erspart geblieben. Hätte er doch nur als Maler Erfolg gehabt, Millionen Menschenleben währen verschont worden. Doch er kanalysierte seine Energie in neue, grauenhafte Bahnen.

Mangel bedeutet stets (Gefahren)-Potential.

Und er kann zu Höchstleistungen antreiben. Genau wie die Liebe Höchstleistungen hervorzubringen mag. In diesem Fall kann ein Mensch seine Gabe als Geschenk darbringen. Weil er keine Angst davor hat, gesehen zu werden. Weil er weiß, wie wunderbar er ist, wie viel Gutes er in sich trägt und dies gern mit anderen Menschen teilen möchte.
Doch wenn Mangel herrscht, kann es für die betroffene Person zweitrangig sein, ob ihre Leistung sich für die Menschen positiv oder negativ auswirkt. Eine Sucht muss befriedigt werden, egal wie. Deshalb ist es stets wichtig, sich über das WARUM klarzuwerden. In richtige Bahnen gelenkt kann Mangel wundervolle Ergebnisse, wundervolle Geschenke, hervorbringen. Bei gesund genutztem Talent.

Gegensätzliche Beweggründe, gleicher Weg. Wahrnehmung. Ausgleich. Erkenntnis, vielleicht.

Der Dirigent Nikolaus Harnoncourt ist am 5.3.2016 von uns gegangen. Er hat ein großes und reiches Erbe hinterlassen. Und diesen Satz:

„Die Kunst ist eben keine hübsche Zuwaage – sie ist die Nabelschnur, die uns mit dem Göttlichen verbindet, sie garantiert unser Mensch-Sein.“

Wir brauchen Luft, Wasser und etwas zu Essen, um unser Überleben zu sichern. Doch um unsere Menschlichkeit zu sichern, benötigen wir die Kunst.

 

5 Kommentare Gib deinen ab

  1. sehr interessante und zutreffende Beobachtungen

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    1. Anne Leohold sagt:

      Danke. Zwar alles sehr reduziert betrachtet, aber will hier ja keine Romane schreiben.

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      1. die Gefahr/Möglichkeit besteht immer 😉

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  2. Dao Humanyu sagt:

    „Kunst ist ein Weg zur SELBSTERKENNTNIS, zur SELBSTVERWIRKLICHUNG. Was für ein Glück, wenn ein Mensch den Weg der Kunst wählt, um seinen gefühlten, inneren Mangel auszugleichen.“

    Es muss nicht immer Mangel sein. Ich sehe es positiv als gefühlte Nichtwissenslöcher gefüllt mit gefühlter Wissenwollenneugier! 😀
    Aber sonst kann ich dir zustimmen! 🙂

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    1. Anne Leohold sagt:

      Da hast du vollkommen Recht! Es gibt 1000 Gründe, von denen ich ja noch einige in dem Artikel genannt habe. Ich will nur sagen, dass Kunst ein super Weg ist um Mängel auszugleichen. Und vor Allem ein Weg, sich selbst besser kennenzulernen.

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